Die 1920er- und 1930er-Jahre stehen bei Automobilen im Zeichen zunehmender Reisegeschwindigkeiten. Entsprechend werden die Schnell- und Fernstraßen ausgebaut, und auch Autobahnen entstehen. Die Fahrzeugindustrie nutzt den Fortschritt. Nicht allein über stärkere Motoren und überarbeitete Fahrwerke: So werden beispielsweise die Karosserien moderner, und auch Stromlinienfahrzeuge fahren in den Blick der Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund konstruiert Mercedes-Benz mehrere Fahrzeuge mit strömungsgünstiger Karosserie. Der 540 K Stromlinienwagen, 1938 fertiggestellt, markiert den einstweiligen Höhepunkt. Der 540 K ist das sportliche Spitzenmodell von Mercedes-Benz in den 1930er-Jahren. Maßgeschneiderte Karosseriekreationen, hergestellt in Einzelfertigung, sind für ihn stets das hohe Normalniveau, und die Abteilung Sonderwagenbau im Werk Sindelfingen ermöglicht die individuelle Umsetzung in die Realität.
Die Restaurierung des 540 K Stromlinienwagen gehört zu den anspruchsvollsten Projekten von Mercedes-Benz Classic. Der Startschuss fällt Ende des Jahres 2011. Vom ursprünglichen Fahrzeug sind in der unternehmenseigenen Sammlung wichtige Originalkomponenten erhalten, beispielsweise der komplette Rahmen sowie die Hinterachse, die zum Zweck höherer Fahrgeschwindigkeiten eine längere Übersetzung hat. Doch vom wichtigsten Bestandteil des Einzelstücks sind am Rahmen lediglich Rückstände zu finden: von der Aluminium-Stromlinienkarosserie. Sie macht diesen 540 K zum wohl außergewöhnlichsten 540 K der Welt.
Das Projekt nimmt im Wortsinn Formen an, als die Mercedes-Benz Classic Archive aus ihrem Bestand die originale Linienrisszeichnung zur Verfügung stellen. Mit ihr kennt man nicht nur die genauen Abmessungen des Fahrzeugs dieser Linienriss ist die millimetergenau am Zeichenbrett entwickelte dreidimensionale Flächenbeschreibung der Außenhaut. Der Holzrahmen, die Kühlerlage sowie die Fahrzeuglängsträger und weitere wichtige Details sind ebenfalls mit eingezeichnet. Ideale Voraussetzungen, um diese historische Informationen und moderne CAD-Technologien miteinander zu verbinden und damit die archivierte Flächenbeschreibung auf ein zeitgemäßes Medium zu übertragen. Die Ergänzung von Details, vor allem aber die Erstellung von Fertigungszeichnungen, Hilfswerkzeugen und Schablonen werden so möglich und tragen zur originalgetreuen Fertigung bei. Das alles klingt einfach. Doch die Fertigungsvorbereitung dauert rund ein Jahr. Als alle Details zusammengestellt sind, fällt Anfang 2013 der zweite Startschuss des Projekts: der zum Aufbau von Karosserie und Chassis, die am Ende wie schon einmal im Jahr 1938 zum fertigen Fahrzeug zusammengeführt werden.
Wiederum sind ausgesprochene Fachleute gefragt solche, die die alten Handwerkskünste rund um den klassischen Automobilbau beherrschen. Um zum Beispiel den Holz-Hilfsrahmen aus Eschenholz aufzubauen, der die Aluminiumkarosserie trägt. Um diese Karosserie zwar unter Zuhilfenahme von Maschinen, aber vor allem mit der Hände Arbeit zu formen passgenau und mit einer absolut gleichmäßigen Oberfläche. Um die Innenausstattung mit Nussbaumholz und feinstem Rindleder auszustatten, sodass das Ambiente eines der exklusivsten Neuwagen der 1930er-Jahre erneut fühlbar wird. Um die Technik des 540 K so aufzubauen, dass das Fahrzeug wie einst zuverlässig hohe Geschwindigkeiten erreicht und halten kann. Kurz: Um den 540 K exakt so wiederherzustellen, wie er 1938 ursprünglich entstanden ist.
Stromlinie in Bestform: Ein Luftwiderstandsbeiwert von cW = 0,36 beschreibt die perfekte Umsetzung
Standard ist so gut wie nichts bei diesem 540 K. Nahezu jedes nicht mehr vorhandene Einzelteil und jedes Detail müssen individuell angefertigt oder aus der Sammlung von Mercedes-Benz Classic ergänzt werden. Doch das ist letztendlich Teil der Zeitreise, die dieses aufwendige Restaurierungsprojekt beschert: Denn auch 1938, als dieses Fahrzeug das erste Mal entsteht, ist es eine individuelle Einzelanfertigung. Mit einem kleinen Unterschied freilich: Während die einstige Abteilung Sonderwagenbau im Werk Sindelfingen Tag für Tag und Jahr um Jahr ausschließlich singuläre Automobile von der feinsten Sorte baut und darin eine gewisse Routine entwickelt, stehen ihre heutigen Nachfolger von Mercedes-Benz Classic bei vielen Arbeitsschritten immer wieder vor der wiederkehrenden Frage: Wie wurde das damals gemacht? Doch diese Frage, man merkt es ihnen an, begreifen sie als Teil ihrer herausfordernden Aufgabe, die Restaurierung des Fahrzeugs so exakt wie möglich.
Und die gründliche Recherche. Denn die Handwerkskunst bei Mercedes-Benz Classic ist stets flankiert von einer fundierten Wissensbasis aus den Archiven. Hier werden Unterlagen zutage gefördert, etwa die originale Offertzeichnung der Stromlinien-Limousine, die einen detailreichen Eindruck von der vielleicht außergewöhnlichsten Karosserie verschafft, die je auf das Chassis eines 540 K gesetzt wurde. Oder der Kommissionsbuch-Eintrag, der Fertigungsbeginn und Kundendaten dokumentiert, sowie der originale Kraftfahrzeugbrief, der wichtige Lebensdaten des Fahrzeugs preisgibt.
Alte Fotos tauchen auf nicht viele, aber jedes einzelne ist eine immense Hilfe auf dem Weg zum perfekten Ergebnis. So können auf den originalen Glas-Negativen aus den 1930er-Jahren durch Scannen mit höchster Auflösung auch kleinste Details sichtbar gemacht werden, etwa die Ausführung der historischen Kennzeichen, die Form des Armaturenbretts, sogar die Lage der Befestigungsschrauben der Holz-Innenverkleidung. Wichtige Informationen enthalten auch die Teilelisten und die Bedienungsanleitung zum 540 K. Alle Materialien ergeben das dicke Paket der Fertigungsunterlagen, mit dessen Hilfe die Fachleute in der Werkstatt miteinander fachsimpeln, sich in die Konstruktionen und Fertigungsabläufe der 1930er-Jahre hineindenken und so lange tüfteln, bis die Lösung perfekt ist. Daher handelt es sich auch nicht um ein reines Restaurierungsprojekt, sondern es ist in mancher Hinsicht auch ein Rekonstruktionsprojekt.
Für dessen Erfolg steht letztendlich die Teamleistung aller Beteiligten. Diverse Fachleute und Gewerke arbeiten miteinander, jeder bringt sein Wissen über historische Fahrzeugtechnik und zeitgenössische Fertigungsmethoden ein und der 540 K Stromlinienwagen entsteht wieder in seiner ursprünglichen Perfektion.
Die Rekonstruktion der Karosserie
Immer wieder bringt das Projekt die Fachleute dazu, die Konstruktionsweise der 1930er-Jahre nachzuvollziehen, weil Details und Fertigungsschritte für die Karosserie nicht dokumentiert sind. Das macht diesen 540 K zu einem perfekten Beispiel für die Verbindung von Restaurierung und Rekonstruktion.
Die vorhandenen Teile der Rahmen, die Hinterachse mit längerer Übersetzung und Kotflügelhalter werden instand gesetzt und konserviert. Sie zeigen nach wie vor die Spuren der Zeit und erzählen so die Geschichte des Fahrzeugs auf ihre Weise: Beispielsweise über Abnutzungsmerkmale, dass das Fahrzeug bei Dunlop für die Reifenerprobung kaum geschont worden ist. Über Bohrungen, wie die Unterbodenverkleidung am Rahmen befestigt war. Oder auch über Lackspuren: Silbern war das Fahrzeug einst. Die Spuren dienen als Grundlage, den Lack passend neu mischen zu lassen.
Wie in den 1930er-Jahren wird das Fahrzeug klassisch aufgebaut: Auf dem Stahlrahmen mit der kompletten Technik ist ein Holz-Hilfsrahmen aus Eschenholz angebracht, der die Karosserie hält. Diese wird zwar unter Zuhilfenahme von Maschinen, doch mit viel Handarbeit aufgebaut wie früher in der Abteilung Sonderwagenbau. Rund 4.800 Arbeitsstunden gehen allein in die Karosserie. Für jedes Detail wird eine Konstruktionszeichnung angefertigt. Am Ende begeistert die Genauigkeit: Alle Karosserieteile passen perfekt zusammen. Und wenn die Fahrzeugtüren satt ins Schloss rasten und die Fugen ein schmales und gleichmäßiges Bild zeigen dann wird das wieder aufgebaute Fahrzeug zu einem Zeugen seiner Zeit und zugleich zu einem Botschafter für hochwertigste Fahrzeugrestaurierung. Und das Schild Sindelfinger Karosserie an der linken Fahrzeugseite wird erneut zum Gütesiegel für eine individuelle Ausführung in höchster Qualität.
Stromlinienkarosserie aus Aluminium ein Einzelstück
Aerodynamikfachleute aus der heutigen Pkw-Entwicklung von Mercedes-Benz beraten bei der Nachkonstruktion der Unterbodenverkleidung. Sie orientiert sich an den originalen Befestigungspunkten, wie sie nur dieses spezielle Fahrzeug aufweist, ist weitgehend geschlossen und hat nur unter Motor, Getriebe und Abgasanlage Lüftungsschlitze.
Im Juni 1938 ausgeliefert an den Reifenhersteller Dunlop.
Historische Informationen und Fotomaterial zum Interieur sind kaum verfügbar. Das Wenige wird genutzt, aber auch hier wird mit viel Sachverstand rekonstruiert. Klar ist: Das Armaturenbrett ist gebogen, um sich in die Kabinenkontur einzupassen und genau so wird es aus Nussbaumholz auch wieder hergestellt. Der gleichen Kontur folgen die zwei gebogenen Windschutzscheiben, die aus Glas nachgefertigt werden. Die historischen Unterlagen besagen, dass das Fahrzeug einst mit grauem Leder ausgeschlagen ist, der Dachhimmel in grauem Stoff bezogen 76 Jahre später steht der Stromlinienwagen wieder genau so da. Die beiden Vordersitze entsprechen dem Original, inklusive dem Verlauf der Pfeifen über das passend geraffte Leder. Technische Zeichnungen besagen, dass im Fond Klappsitze montiert sind sie entstehen neu.
Am 20. Mai 1938 stellt Daimler-Benz den Kraftfahrzeugbrief aus. Drei Wochen später, am 14. Juni 1938, wird das Fahrzeug in Hanau, dem Sitz der Dunlop-Werke, zugelassen und erhält das Kennzeichen IT-146901. Zehn Tage später erfolgt am 24. Juni 1938 der Eintrag in der Sammelstelle für Nachrichten über Kraftfahrzeuge in Berlin. Das findet alles noch vor der Auslieferung des Stromlinien-540 K an die Daimler-Benz Niederlassung in Frankfurt statt; diese dokumentiert das Kommissionsbuch schließlich für den 25. Juni 1938.
Fotos: Daimler AG
Mercedes-Fans Facts
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Fotostrecke | Ein Stern kehrt zurück: Mercedes-Benz 540 K Stromlinienwagen:
1938 Mercedes-Benz 540 K Stromlinienwagen (W29)
Antrieb: 8/Reihe, Hubraum: 5.401 Kubikzentimeter
Leistung: 85 kW (115 PS), mit Kompressor 132 kW (180 PS)
Höchstgeschwindigkeit: 185 km/h
Luftwiderstandsbeiwert: cW = 0,36
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