Ach, das waren noch Zeiten, hat Opa immer geschwärmt, wenn man ihn auf die Wirtschaftswunderjahre in Deutschland ansprach. Gut, er schwärmte auch davon, wenn man ihn nicht darauf ansprach. Deutschland muss damals eine ganz andere Welt gewesen sein: Rot-Weiß Essen war Fußballmeister, Konrad Adenauer Bundeskanzler und Ludwig Erhard erfand die soziale Marktwirtschaft. Letztere bescherte den Deutschen einen Grad von Wohlstand, den man nach dem Krieg kaum mehr für möglich gehalten hatte. Und dieser Wohlstand musste in Form von Waren irgendwie zu den Verbrauchern kommen. Also rollten immer mehr Kleintransporter über die Straßen. Besonders bekannt, weil weit verbreitet: Der VW T1-Bus, im Volksmund auch Bulli genannt. Aber auch Mercedes hatte seinen Bulli, nämlich den Transporter L 319.
Schnell-Lastwagen - der Opa von Sprinter & Co.
Auf der IAA des Jahres 1955 präsentierte Mercedes einen robusten, auf den Namen L 319 getauften Schnell-Lastwagen. Der für Handwerk, Handel und Gewerbe gedachte Transporter verfügt über einen tragenden Leiterrahmen, blattgefederte Starrachsen vorne und hinten, eine hintere Zwillingsbereifung und große 16 Zoll-Räder. Kurz gesagt also über eine robuste, nahezu unkaputtbare Basis. 3,6 Tonnen Gesamtgewicht durfte der L 319 auf die Waage bringen. Der Besitzer musste sich im Vorfeld lediglich entscheiden, ob er ihn als Kastenwagen, Pritschenwagen, Tieflader oder Verkaufswagen haben möchte. Letzterer besaß Markisenverschlüsse, was beweist, dass Mercedes auch damals schon einen Blick für praktische Details hatte. Selbst seitliche Schiebetüren waren lieferbar allerdings nur als Einstiegshilfe für das Fahrerhaus. Schiebetüren für den Laderaum wurden erst Jahre später populär.
Stupsnase statt Langschnautze
Einen L 319 erkannte man 1956, das Jahr, in dem er in Serie ging, auf den ersten Blick. Denn während die meisten Transporter dieser Zeit eine lange Schnautze vor sich hertrugen, besaß der Mercedes einen sehr kurzen, rundlichen Vorbau. Der Grund dafür war seine Frontlenker-Bauweise, die die Vorderachse ganz nah an den Bug rückte. Die Fahrertür befand sich hinter der Vorderachse. Weitere L 319-Erkennungsmerklmale waren der ovale Grill mit den beiden Rundscheinwerfern und die einteilige, kühn geschwungene Panorama-Frontscheibe.
Im Innenraum ging es übersichtlich zu: Ein Tacho, ein Kühlwasserthermometer, Ende. Die Reichweite des L 319 galt es mittels Gefühl bzw. Erfahrung zu kalkulieren eine Benzinuhr, die den aktuellen Füllstand des 60-Liter-Tanks anzeigt, war nämlich nicht an Bord. Dafür hatte es der Fahrer mit einer leichtgängigen Lenkradschaltung zu tun, die durchaus als Vorläufer des Joysticks im aktuellen Mercedes Sprinter gelten darf.
Temperamentvolle Pkw-Motoren
Hinter der kurzen Front des L 319 steckten wahlweise ein Diesel- oder ein Benzinmotor. Der Selbstzünder stammte aus dem Mercedes 180 D und lieferte aus 1,8 Litern Hubraum 43 PS. Der Benziner war eine Leihgabe aus dem 190er und holte aus seinen 1,9 Litern 65 PS. Im zeitgenössischem Prospekt war in diesem Zusammenhang von einem temperamentvollen Motor zu lesen, was angesichts von Höchstgeschwindigkeiten von 95 km/h (Benziner) und 80 km/h (Diesel) ziemlich selbstbewusst klang. Andererseits floss der Verkehr um den L 319 herum auch deutlich langsamer als heute. Stichwort langsam: Der dieselgetriebene L 319 war kein Schnellstarter. Das Vorkammertriebwerk verlangte beim Kaltstart nach der klassischen Diesel-Gedenkminute, in der geduldig vorgeglüht werden durfte. Aber auch sonst kam der Fahrer nicht ausschließlich zum Fahren. Er hatte außerdem die Aufgabe, alle 1000 Kilometer eine Handvoll Schmierstellen rund um das Fahrgestell mit der Fettpresse zu behandeln. Auch das Nachziehen der Zylinderkopfschrauben, das Einstellen des Ventilspiels und das Reinigen von Öl- und Kraftstofffilter lagen ganz selbstverständlich in seiner (ölverschmierten) Hand.
Vom L 319 zum L 408/406
Zwölf Jahre lang, von 1956 bis 1968, lief der L 319 vom Band. In dieser Zeit wurde er kräftiger (55 PS Diesel bzw. 80 PS Benziner) und wechselte gleich mehrfach seinen Produktionsstandort. Der lag zunächst in Sindelfingen, wechselte dann 1962 nach Düsseldorf, wo noch heute der Sprinter gebaut wird, und landete schließlich in Vitoria/Spanien, wo der L 319 aus Teilesätzen montiert wurde, die das Werk Düsseldorf zulieferte.
Auch die Typenbezeichnung änderte sich mit den Jahren: 1963 verschwand das L 319, das wie damals üblich auf die interne Konstruktionsbezeichnung zurückging, und wurde durch einen Zahlencode ersetzt, der die Tonnage und Leistung des Fahrzeugs angab. In diesem Fall also 4 Tonnen Gesamtgewicht und 80 bzw. 60 PS Leistung gleich L 408 und L 406. Diese Nomenklatur ist für Mercedes Nutzfahrzeuge bis heute gültig.
Kultverdächtig: der Samba-Bus namens O 319
Neben dem rein nutzlastorientierten L 319 bot Mercedes auch einen zivilen Ableger namens O 319 an. Dabei handelte es sich um einen handlichen Kleinbus, der zunächst im Werk Mannheim gefertigt wurde. Technisch entsprach er seinem Lastwagen-Bruder, konzentrierte sich allerdings voll auf die Rolle als gehobener Reisebegleiter. Das begann noch recht harmlos mit einer 18-sitzigen Version für den Berufsverkehr, ging aber auch wesentlich nobler: Das Spitzen-Modell der Baureihe besaß Dachrandverglasung, Faltschiebedach, Zweifarb-Lackierung und Luxusbestuhlung für zehn Passagiere. Merkmale, die wenn auch eine Nummer kleiner den VW T1-Bus in der Ausführung Samba zum gesuchten Kultmobil machten. Deshalb unser Tipp an alle Oldie-Fans mit großer Familie: Werft mal einen Blick auf den O 319! Der ist kultig, selten, sympathisch und sorgt sicherlich für das eine oder andere anerkennende Ohh. Leider haben gute Modelle den Samba-Bus von VW preislich schon deutlich überholt!
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