W110-Heckflosse aus Dornröschen erwacht

1964er Mercedes-Benz 190 Dc wird mit 50 wieder wach

W110-Heckflosse aus Dornröschen erwacht: 1964er Mercedes-Benz 190 Dc wird mit 50 wieder wach
Erstellt am 15. Oktober 2015

Fast wie die Geschichte eines Scheunenfundes klingt das, was ein rot-schwarzer 190 Dc von 1964 von sich zu erzählen weiß. Oder werden hier etwa Erinnerungen an Dornröschen geweckt, wach geküsst von einem Prinzen oder doch "nur" von einem Mercedes-Fan aus Luxemburg? Jedenfalls kann unser Heckflossen-Stern sich sicherlich mit Schneewittchen an Schönheit messen.

Es geht um einen innen und außen perfekten 190er Heckflossen- Diesel im Originalzustand mit gerade einmal 76 000 km auf seinem Fieberthermometertacho. Ein Wagen wie kaum erst eingefahren und so makellos, dass er in diesem Jahr bei der ADAC Deutschland Klassik zweiter Klassensieger wurde. So etwas hört sich gar nicht nach einem Maler- Bauern- und Metzgerauto an, wie der 190D in der späten Wirtschaftswunderzeit spöttisch genannt wurde,   und doch war der Erstbesitzer ein Gummersbacher Malermeister. Fünf Jahre ließ er seinen Stern unangemeldet, und wie oft muss er in dieser Zeit wohl seiner Garage einen Besuch abgestattet haben, um seinen Schatz zu bewundern und dabei jedes Mal zu dem Entschluss zu kommen, die Erstanmeldung und die erste Ausfahrt noch hinaus zu schieben? Doch lesen Sie nachfolgend selbst, berichtet aus Sternensicht, wie die unglaubliche Geschichte abgelaufen ist:

Der 190Dc erzählt die unglaubliche Geschichte

"Gestatten Sie, dass ich  mich vorstelle! Vorname: 190Dc („c“ weil es vorher schon andere mit Vornamen 190D gegeben hat) – Familienname: Heckflosse, abgekürzt W110. Ich bin Mitglied einer großen Familie, die von 1959 bis 1968 in vielen verschiedenen Baureihen vom Band lief. Wir waren insgesamt etwas mehr als 1.000.000 Familienmitglieder, darunter etwa 225.600 von meiner Bauart mit dem 4-Zylinder-Dieselmotor. Doch im Laufe der Jahre sind die allermeisten von uns den Unfalltod oder an der Rostkrankheit gestorben. Von meinen direkten Geschwistern waren Anfang 2014 in Deutschland laut Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg nur noch 498 angemeldet. (Ich bin da nicht mitgezählt, weil ich mich am Zähltag im Dornröschenschlaf befand.)

Unsere gesamte Familie umfasst dort  nur noch rund 2.950 Fahrzeuge. Wir sind also, wie viele andere auch, eine vom Aussterben bedrohte Art, und es ist an der Zeit, unseren Bestand  zu schützen. Die Familienähnlichkeit ist auffällig und auch so gewollt: Unsere Einheitskarosserie zieht sich über die ganze Familie hinweg und bietet allen Käufern denselben Fahrgast- und Kofferraum. Unsere hinteren Kotflügel sind Erkennungszeichen, besonders die kantigen oberen Abschlüsse sind als Peilstege ausgebildet und werden von den Menschen liebevoll Heckflossen genannt. Dieser Name war nicht so von unseren Schöpfern geplant, weil sie wohl nicht wollten, dass man unsere Kanten mit den überdimensionierten Auswüchsen an amerikanischen Fahrzeugen in einen Topf wirft.

Die „kleine Flosse“

Ich selbst gehöre zu den so genannten „kleinen Flossen“, die von April 1961 bis August 1968 gebaut wurden. Weil mein Motor weniger Platz braucht als bei den 6-zylindrigen Cousins ist meine Motorhaube 15 cm kürzer als dort. Meine Gesamtlänge beträgt doch immerhin noch stattliche 4730 mm. Ich gehöre den mittleren Jahrgängen an und wurde am 8 April 1964 an meinen Besitzer in Nordrhein-Westfalen übergeben. Er hat mich von Anfang an üppig ausstatten lassen, mit schöner Zweifarblackierung, Zusatz- Nebellampen und reichlich Schmuck, wie Stoßstangenecken und Chromleisten, die sich von den Heckflossen bis über die Türgriffe der Hintertüren hinziehen. Innen sollten Radio und Kassettenspieler ihm das Fahren angenehm gestalten. Er muss mich sehr gemocht haben und ist wohl ein vorausschauender Mensch gewesen. Auf jeden Fall hat er mir vorsorgende Pflege angedeihen lassen indem er für Hohlraumkonservierung und Unterbodenschutz gesorgt hat, bevor ich in ein womöglich abenteuerliches Leben losgeschickt wurde. Das aber war nicht sofort der Fall, denn die ersten 5 Jahre meines Lebens durfte ich als stummes Familienmitglied verharren und die Vorfreude auf ein aktives Automobilleben genießen.

Weitgereister Mercedes-Oldtimer

Als es dann endlich so weit war, dass ich mit meinem Besitzer und seinen Lieben stolz umherfahren durfte, wurde ich immer sorgsam gehütet und gepflegt. Regelmäßig gönnte er mir längere Auszeiten, in denen ich mich ausruhen durfte, dann aber wieder angemeldet wurde, um auf Tour zu gehen. Wir haben oft Ferien im Süden Deutschlands gemacht, und ich bewahre bis heute mehrere Plaketten auf, die wir als treue Gäste für 10, 15 und 20-fachen Besuch desselben Ortes im Allgäu zum Geschenk bekamen.

Allzu viel wurde ich allerdings nicht in der Welt umhergehetzt, und im Jahr 1983, nach 14 aktiven Jahren, durfte ich in Frührente gehen und mich zur Ruhe setzen. Ich hatte knapp 69.000 km auf dem Tacho. So verharrte ich viele Jahre voller Muße und Ruhe und freute mich, dass ich immer in derselben Familie bleiben durfte, bis dass der Tag kam, den ich immer mehr gefürchtet hatte. Mein Erstbesitzer war nämlich in der Zwischenzeit gestorben und seine Erben beschlossen, dass ich eine neue Bleibe bekommen sollte.

EIn Mercedes-Fan aus Luxemburg entdeckte den W110

An dem Tag, als ich meine liebe Familie verließ, war ich so aufgeregt, dass ich mir, nicht ahnend, dass meine Bremsen aus der Übung gekommen waren, beim schwungvollen Vor- und Rückwärtsmanövrieren an den Stoßstangen und an der Motorhaube eine kleine Beule geholt habe. Das war schade und hätte nicht sein müssen, aber als einzige Blessuren in meinem Leben ist das nicht das Schlimmste, was mir widerfahren konnte. So kam ich dann im Frühling 2014 in eine Fachwerkstatt unweit von Trier, wo meine Blessuren behoben wurden. Die ganze Zeit des Stillstehens war mir natürlich nicht gut bekommen, sodass ich jede Menge Standschäden erlitten hatte, die gleichzeitig beseitigt wurden.

In dieser Zeit begegnete mir ein mit dem Mercedes-Virus infizierter Oldiefreund aus Luxemburg, dessen Blicke sofort auf mich fielen, als er mit einem Fahrzeug zur Werkstatt kam. Nach kurzem Gespräch stand fest, dass meine neue Heimat auf der anderen Seite der Mosel sein sollte. Im August 2014, 50 Jahre nach meiner Erstauslieferung, trat ich die Reise nach Luxemburg an und bin bei Gesundheit. Bis auf eine Stoßstangenhälfte und die üblichen Verschleißteile ist noch alles genauso original wie am ersten Tag. Mit Ausnahme der Nachlackierung der Motorhaube erfreue ich mich meines ersten Lacks und einer Innenausstattung, die keinerlei Gebrauchsspuren aufweist. Sogar die Aschenbecher warten noch auf ihre erste Zigarette und werden auch beim neuen Besitzer keine Bekanntschaft damit machen.

Fast ein "echter Survivor" im originalen Zustand!

Dass mein Motor mit einer so kleinen Laufleistung völlig gesund ist, macht mir besonders viel Freude, und ich gehe davon aus, dass ich meinen neuen Besitzer noch über viele Kilometer mit meiner Dieselhintergrundmusik begleiten werde. Aber das wird Inhalt der zweiten 50 Jahre meines Lebens sein."

Da kann man abschließend Guy, seinem neuen, ihn liebevoll pflegenden Besitzer, nur weiterhin viele begeisterte Sternstunden in seinem genüsslich nagelnden Fundstück wünschen. Und dann wartet da ja noch ein anderer Genuss vom Jahrgang 1964 in rot, ein Corton-Charlemagne. Prost Guy!

Text und Fotos: Guy Müller, Friedrich W. Thüner

47 Bilder Fotostrecke | W110-Heckflosse aus Dornröschen erwacht: 1964er Mercedes-Benz 190 Dc wird mit 50 wieder wach #01 #02


Mercedes-Fans Facts

1964 Mercedes-Benz 190 Dc (W110)

Motor:  OM 621 III
Getriebe: Viergang-Lenkradschaltung
Bremsen: Scheiben vorn, Trommeln hinten
Räder: Tiefbettfelge 5 JK x 13 B
Reifen: 7,00-13  
Fahrwerk:  Einzelradaufhängung an Doppelquerlenkern vorn, Eingelenk- Pendelachse mit Schraubenfedern und mittlerer Ausgleichsfeder hinten  
Karosserie: "Kurze Flosse", Chrom Sonderausstattung  
Innenraum: Serie   

2 Kommentare

  • 2FAST4YOU

    2FAST4YOU

    Bravo Guy, fir den klengen flotten Schatz do. Weider eso!
  • egide aus belgien

    Egide aus belgien

    Was fur ein Geschichte, Wünderschon!

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