Der Genfer Automobil-Salon im März 1963 ist Schauplatz einer bemerkenswerten und vielbeachteten Premiere: Daimler-Benz präsentiert den Mercedes-Benz 230 SL und damit einen neuen Sportwagen, der gleich zwei Modelle des bisherigen Verkaufsprogramms ersetzen soll. Seine beiden Vorgänger 190 SL (W 121) und 300 SL (W 198) sind von Anfang an höchst beliebt und erfolgreich, insbesondere der Typ 300 SL wird bereits während seiner Bauzeit eine Legende. Das neue Modell, intern als Baureihe W 113 und im Volksmund Pagode bezeichnet, schlägt einen Mittelweg zwischen den Konzepten des 190 SL und des 300 SL ein...
Der Zweisitzer hält die Balance zwischen der sportlichen Abstimmung eines klassischen Roadsters und bringt doch alle Annehmlichkeiten des komfortablen, zweisitzigen Reisewagens für hohe Fahrleistungen mit sich inklusive modernster Merkmale für optimale Fahrsicherheit. Die ersten Meinungen über diese Sportwagen-Neuschöpfung, die so gar nichts mehr mit den kraftstrotzenden Vorgängern gemein zu haben scheint, schwanken zwischen unverhohlener Ablehnung bis zu vorsichtiger Zustimmung.
Lieferbar ist der 230 SL vom Sommer 1963 an in drei Ausführungen: als offener Roadster mit einem spielerisch leicht zu bedienenden Faltverdeck eine kleine Sensation für sich , als offene Version mit Hardtop und schließlich als Hardtop-Coupé. Dem Hardtop-Coupé fehlen Verdeck und Verdeckkasten, dafür gibt es mehr Platz für Gepäck. Alle drei Versionen lassen sich offen fahren. Auf Wunsch ist ein Quersitz im Fond erhältlich, wie er bereits beim Typ 190 SL angeboten worden ist.
Zweifellos war das Hardtop nicht jedermanns Sache, aber Mercedes-Benz verlangte von einem SL nicht nur formale Harmonie, sondern auch Originalität. Deshalb setzten der damalige Styling-Chef Friedrich Geiger und Direktor Karl Wilfert, Leiter der Karosseriekonstruktion und des Versuchs in Sindelfingen (Lieblingsspruch: Nur keinen Streit vermeiden!), das ungewöhnliche Dachkonzept durch.
Das Hardtop erinnert durch seinen nach innen gerichteten Schwung an fernöstliche Tempelbauten, den Pagoden
Das Äußere des Typ 230 SL ist geprägt durch klare und gerade Linien sowie durch das unverkennbare SL-Gesicht samt dem großen zentralen Mercedes-Stern. Die Motorhaube hat in der Mitte eine leichte zusätzliche Wölbung, die dem aufrecht stehenden Sechszylindermotor Raum bietet. Sein Kofferraum ist großzügig bemessen. Das Hardtop vermittelt durch seine hohen Scheiben und das nur von schmalen Säulen getragene Dach eine Leichtigkeit, die so gar nicht dem Klischee eines Sportwagens entspricht. Es erinnert durch seinen nach innen gerichteten Schwung an fernöstliche Tempelbauten, und der Wagen hat seinen Namen weg, noch bevor er richtig auf die Straße kommt: Pagode. Zudem erleichtert das Hardtop, ebenfalls aufgrund seiner Formgebung, das Ein- und Aussteigen.
Erstmals ist bei einem SL auf Wunsch ein Viergang-Automatikgetriebe erhältlich
Abgesehen vom Radstand den magischen Wert von 2400 Millimetern übernimmt man unverändert von den Typen 190 SL und 300 SL hat der neue SL praktisch keine Gemeinsamkeiten mit seinen beiden Vorgängern. Dennoch ist die Baureihe W 113 keine völlige Neukonstruktion, entspricht ihr technisches Konzept doch weitgehend dem Typ 220 SE (W 111/3). So verwendet der SL beispielsweise die Rahmen-Bodenanlage der Heckflossen-Baureihe, freilich verkürzt und verstärkt, einschließlich Vorder- und Hinterrad-Aufhängung. Außer dem serienmäßigen Viergang-Schaltgetriebe, erstmals bei einem SL, ist auf Wunsch ein Viergang-Automatikgetriebe erhältlich. Als dritte Variante kommt im Mai 1966 ein von der Zahnradfabrik Friedrichshafen (ZF) bezogenes Fünfgang-Schaltgetriebe hinzu.
Béla Barényi zeichnet für viele der Sicherheitsmerkmale der Pagode verantwortlich
Die Pagode ist der erste SL, bei dem sich zur sportlichen Schnelligkeit die Sicherheit als Konstruktionsziel gesellt. Da seine Basis die Bodengruppe der berühmten Heckflosse ist, der weltweit ersten Limousine mit Sicherheitskarosserie, hat auch dieser SL eine steife Fahrgastzelle und Knautschzonen in Form leicht verformbarer Front- und Hecksegmente. Diese Bauweise geht auf den Ingenieur Béla Barényi zurück, der für viele Sicherheitsmerkmale bei Fahrzeugen der Marke Mercedes-Benz verantwortlich zeichnet.
Der Innenraum ist wie bei der Limousine entschärft, es gibt also keine harten Ecken und Kanten. Sicherheitsgurte sind, wie beim Vorgänger, als Sonderausstattung erhältlich. Das Lenkgetriebe ist aus dem crashgefährdeten Bereich vom Vorderwagen an die Stirnwand gerückt, die Lenksäule ist geknickt und besitzt zudem ein Gelenk, das den gefürchteten Lanzeneffekt bei einem Unfall verhindert. 1967 kommen die Sicherheits-Teleskoplenksäule und der Pralltopf im Lenkrad hinzu.
Fahrwerk, Motor und Getriebe
Das Fahrwerk, übernommen aus der Limousine vom Typ 220 SE (W 111), ist auf die Belange des sportlichen Autos abgestimmt. Es bietet eine Kugelumlauflenkung, ein Zweikreis-Bremssystem und Scheibenbremsen an der Vorderachse. Seine Federung ist straff, aber für einen Sportwagen seinerzeit fast untypisch komfortabel. Für die Dämpfung sorgen Gasdruck-Stoßdämpfer, und erstmals fährt ein Personenwagen von Mercedes-Benz auf Gürtelreifen.
Der ebenfalls aus der Limousine stammende Sechszylindermotor muss einige einschneidende Änderungen über sich ergehen lassen, deren wichtigste der Übergang von der Zweistempel- zur Sechsstempel-Einspritzpumpe ist. Damit wird es möglich, den Kraftstoff direkt durch den vorgewärmten Ansaugkanal und die geöffneten Einlassventile in den Brennraum zu schießen und nicht mehr nur in das Ansaugrohr. Der auf 2,3 Liter Hubraum aufgebohrte Motor (M 127 II) leistet so 150 PS (110 kW) bei 5500/min und bietet bei 4200/min ein Drehmoment von 196 Newtonmetern. Dieser sehr sportlich angelegte Antrieb des SL will fleißig gedreht werden, untertourige Drehzahlen sind nicht sein Fall.
Das Vierganggetriebe, ebenfalls aus dem Limousinen-Baukasten, ist lediglich im ersten Gang etwas kürzer ausgelegt, um eine sportlichere Beschleunigung zu erzielen; diese liegt bei 9,7 Sekunden für den Spurt von null auf 100 km/h. Die Höchstgeschwindigkeit des Typ 230 SL mit Stoffdach beträgt 200 km/h, mit Hardtop sind es rund 4 km/h weniger. Die Variante mit optionalem Automatikgetriebe erreicht 195 km/h. Sie ist in den Augen von Sportwagen-Puristen nahezu unmoralisch. Die Geschichte lehrt eine andere Lektion: Beim Auslaufen der Pagode liegt der Automatik-Anteil bei rund 77 Prozent. Ähnliches gilt für die ebenfalls gegen Aufpreis erhältliche Servolenkung. Auch in dieser Hinsicht ist die Baureihe W 113 wegweisend. Denn alle nachfolgenden SL-Typen paaren stets ausgesprochen gute Fahrleistungen mit einem Höchstmaß an Komfort. Vom Typ 230 SL wird die beachtliche Zahl von 19.831 Wagen gebaut.
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Hubraumstärkere Nachfolger
Am 27. Februar 1967 präsentiert Mercedes-Benz den 250 SL, der den seit vier Jahren produzierten Typ 230 SL ablöst. Äußerlich ist der Neuling, dessen Serienfertigung bereits im Dezember 1966 begonnen hat, von seinem Vorgänger nicht zu unterscheiden. Die Änderungen betreffen im Wesentlichen den Motor und die Bremsanlage, die beide, leicht modifiziert, vom Typ 250 SE (W 108 III) stammen. Der Motor M 129 III mit einem um 200 Kubikzentimeter vergrößerten Hubraum hat im Vergleich zum Typ 230 SL bei gleicher Leistung von 150 PS (110 kW) bei 5500/min ein um 10 Prozent höheres Drehmoment, bei einem flacheren Verlauf der Drehmomentkurve. Er ist nun, für einen besseren Laufkomfort, mit sieben Kurbelwellenlagern versehen, zudem mit einem Öl-Wasser-Wärmetauscher; erst der spätere Typ 280 SL wird einen Luft-Ölkühler erhalten.
Der Typ 250 SL fährt sich somit deutlich elastischer, erreicht aber aufgrund seines höheren Gewichts nicht ganz die Höchstgeschwindigkeit des Vorgängers. Sie beträgt mit dem Viergang-Schaltgetriebe je nach Hinterachsübersetzung (Standard: 1 : 3,92; auf Wunsch: 1 : 3,69) 195 km/h oder 200 km/h (Automatikgetriebe: 190 km/h oder 195 km/h). Mit Fünfgang-Schaltgetriebe ist er nur in einer Variante erhältlich (1 : 4,08), die 200 km/h erzielt.
Die Änderungen an der Bremsanlage umfassen Scheibenbremsen auch an den Hinterrädern, größere Bremsscheiben vorn sowie die Ausrüstung mit Bremskraftregler, um das Überbremsen der Hinterräder zu verhindern. Auf Wunsch gibt es nun eine Differenzialsperre. Einen erweiterten Aktionsradius ermöglicht der vergrößerte Kraftstofftank mit einem Volumen von 82 Litern statt bisher 65 Liter Inhalt.
California-Ausführung = Coupé mit Fondsitzbank
Neben den drei vom Typ 230 SL bekannten Karosserie-Ausführungen ist vom Typ 250 SL auf Wunsch als vierte Version ein Coupé mit Fondsitzbank lieferbar, das erstmals im März 1967 auf dem Genfer Auto-Salon gezeigt wird. Bei dieser sogenannten California-Ausführung hat man den für die hintere Sitzbank erforderlichen Raum durch Wegfall von Verdeck und Verdeckkasten gewonnen. Da eine Nachrüstung des Dachs nicht möglich ist, verspricht diese Variante nur in regenarmen Regionen oder mit aufgesetztem Coupédach ungetrübten Fahrspaß.
Bereits weniger als ein Jahr nach der Präsentation des Typ 250 SL ersetzt nach 5.196 gebauten Exemplaren der Typ 280 SL das Fahrzeug. Abgesehen vom Typenschild unterscheidet er sich äußerlich nur an den geänderten Radzierblenden von seinen beiden Vorgängermodellen. Im Zuge der Markteinführung der neuen Mittelklasse-Typen der Baureihe 114/115 erhalten nicht nur die Limousinen, Coupés und Cabriolets der Oberklasse, sondern auch der SL einen 2,8-Liter-Motor.
Die im Typ 280 SL eingesetzte Motorvariante M 130 mobilisiert dank einer Nockenwelle mit geänderten Steuerzeiten 10 PS (7,4 kW) mehr als die Basisversion des Typ 280 SE und leistet 170 PS (125 kW) bei 5750/min. Gegenüber dem Typ 250 SL ist die Leistung um rund 20 PS (15 kW) und das Drehmoment um 10 Prozent gesteigert. Der Kühlerventilator ist erstmals mit einer Visko-Kupplung ausgestattet, welche die Drehzahl begrenzt. Die Beschleunigung von null auf 100 km/h liegt bei 9 Sekunden und die Höchstgeschwindigkeit wieder auf dem Niveau des Typ 230 SL, beträgt also in der Version mit Stoffdach 200 km/h. Sein auf einen weiter erhöhten Komfort ausgelegtes Fahrwerk zeigt sich weicher. Die Service-Intervalle betragen 10.000 anstelle von 3.000 Kilometern.
Im März 1971 endete die Produktion des 280 SL. 23.885 Exemplare des schnellen und zuverlässigen Mercedes-Benz 280 SL liefen vom Band. In den USA war der Sportwagen ein Hit: Im letzten Produktionsjahr gingen fast 70 Prozent der 280 SL nach Nordamerika. Denn gegenüber anderen europäischen Sportwagen war der Mercedes-Roadster - ganz nach amerikanischem Geschmack - mit einer Servolenkung und Automatikgetriebe zu bekommen.
Von den drei SL-Typen der Baureihe 113 wurden in den acht Jahren 1963 bis 1971 insgesamt 48.912 Pagoden produziert beachtlich für einen Sportwagen mit derart hohem Anspruch. Heute machen ihre hohe Gesamtqualität, ihre Eleganz und klaren Linien die Baureihe W 113 zu einem begehrten Objekt von Restauratoren und Sammlern. Nachfolger des "Pagoden-SL" wurde der vollkommen neu konstruierte Typ 350 SL der Baureihe R 107, dessen Serienfertigung im April 1971 begann.
Technische Highlights des Mercedes-Benz SL der Baureihe W 113
-Spielerisch leicht zu bedienendes Faltverdeck
-Sechszylindermotor mit Sechsstempel-Einspritzpumpe
-Erstmals bei einem SL ist ein Automatikgetriebe erhältlich
-Sicherheitskarosserie mit steifer Fahrgastzelle und verformbaren Front- und Hecksegmenten
-Zahlreiche weitere Sicherheitsmerkmale wie entschärfter Innenraum und geknickte Lenksäule
-Scheibenbremsen an der Vorderachse, ab 1967 auch an der Hinterachse
Produktionszahlen
Typ
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Konstruktions- bezeichnung
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Produktionszeit Vorserie bis Ende
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Stückzahl
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230 SL
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W 113
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1963-1967
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19,831
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250 SL
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W 113 A
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1966-1968
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5,196
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280 SL
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W 113 E 28
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1967-1971
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23,885
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Gesamtzahl
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48,912
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