Es war der lang ersehnte Befreiungsschlag und zugleich wohl der endgültige Beginn der Wachablösung - George Russell gewann in Interlagos seinen ersten Formel-1-GP vor seinem Teamkollegen Lewis Hamilton und sorgt damit nach dem langen Tal der Tränen doch noch für einen versöhnlichen Moment kurz vor Ende der langen Saison.
Nach der Zieldurchfahrt übermannten die Gefühle den jungen Engländer George Russell, er gerade seinen ersten Grand Prix gewonnen hatte. Dabei hatte er nicht nur nach seinem Sprintsieg am Samstag das Hauptrennen überlegen von der ersten bis zur letzten Runde angeführt und dabei zwei knifflige Restarts souverän gemeistert, sondern auch seinen Teamkollegen Lewis Hamilton - immerhin siebenmaliger Weltmeister und anerkannte F1-Lichtgestalt - locker im Griff.
Ob dies schon die erwartete Wachablösung an der Spitze des Fahrerteams ist, muss man allerdings abwarten. In den letzten Rennen konnte Hamilton seinen jungen Teamkollegen meist auf Distanz halten, während er am Anfang der Saison deutlich zu kämpfen hatte. In Interlagos hingegen trumpfte Russell auf, obwohl er auch von Fehlern und Problemen Hamiltons profitierte. So zum Beispiel im Qualifying, als Russell erst die drittschnellste Runde hinbrannte und sich dann ins Kiesbett verabschiedete. Hamilton hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine wirklich tolle Runde hingebracht und musste wegen der Unterbrechung mit dem achten Startplatz vorliebnehmen.
Im Sprintrennen am Samstag konnte Russell mit einer tadellosen Leistung Max Verstappen niederringen und den Sieg holen. Hamilton kämpfte sich mit einer Galavorstellung auf den dritten Rang nach vorn und startete wegen einer Strafversetzung des Zweitplatzierten am Sonntag neben seinem Teamkollegen auf Rang zwei.
Dass es im Rennen nicht zu einem direkten Duell zwischen den beiden Silberpfeilen kam, dafür sorgte einmal mehr Max Verstappen, der in Hamilton offenbar immer noch sein persönliches Rotes Tuch erkennt. Beim ersten Restart rammte der Niederländer in bekannter Manier seinen alten Erzfeind in der ersten Schikane von der Strecke und bezog dafür eine 5-Sekunden-Strafe. Viel schlimmer war der Verlust seines Frontflügels, der ihn früh an die Box zwang. Hamilton konnte zwar weiterfahren, fiel aber weit zurück.
Das nutze Russell in der Spitze, um sich ungehindert abzusetzen. Weder Sainz im Ferrari noch Perez im Red Bull konnten ihn in der Folge unter ernsthaften Druck setzen. Hamilton hingegen setzte wiederum zu einer Aufholjagd an und machte Position um Position gut, bis er wieder in Podiumsreichweite geriet. Hier half ein spätes Safetycar, um die Protagonisten wieder zusammenzuführen. Mittlerweile auf Rang zwei konnte Hamilton aber gegen Russell nichts mehr ausrichten, weil sein Unterboden infolge der Kollision mit Verstappen beschädigt war. So fuhr das Duo in der Reihenfolge Russell - Hamilton über die Ziellinie und sorgte für einen Jubelsturm an der Mercedes-Box. Nicht mitjubeln konte Teamchef Toto Wolff, der ausgerechnet an diesem Wochenende nicht vor Ort war und nur hinterher per Videochat noch im Vorbereitungsraum des Podiums gratulieren konnte. Vielleicht sollte der Chef öfter mal zu Hause bleiben...
Dieser Sieg zeigt, dass sich die harte Arbeit des Teams über die ganze Saison doch noch gelohnt hat. Nach großen anfänglichen Schwierigkeiten mit dem Auto hat man den Silberpfeil nun endlich komplett verstanden und ihn dahin gebracht, wo er hingehört - an die Spitze. Weder Red Bull noch Ferrari hatten in Brasilien eine Chance gegen die Silbernen. Der tatsächliche Wert dieser Auferstehung darf allerdings in Frage gestellt werden. Längst hat sich die Designabteilung entschieden, für die kommende Saison vom radikalen Konzept abzukehren und ein neues Design zu entwerfen, das deutlich konventioneller daherkommt. Daher ist fraglich, ob die derzeitige Hochform überhaupt für das nächste Jahr relevant ist.
George Russell ist das momentan sicher ziemlich egal. Er genießt seinen Debüt-Sieg in vollen Zügen. Dabei gratulierte und gönnte ihm Hamilton diesen Erfolg von Herzen, ungeachtet der natürlichen Rivalität unter Teamkollegen. Hamilton hat mittlerweile zu früher ungeahnter Demut und Größe gefunden - Eigenschaften, die Max Verstappen eindeutig abgehen, wie sein trotziges Ablehnen des Teambefehls zum Platztausch mit Partner Perez zeigt. Dieser hat sich in der Vergangenheit mehrfach für Verstappen und das Team aufgeopfert und bekommt vom Niederländer nun nicht einmal einen einzigen Punkt geschenkt, den Perez im Kampf um WM-Rang zwei dringend benötigt hätte. Wohlgemerkt gegen mehrfache Anweisung der Teamführung... Das dürfte Perez in Zukunft nicht gerade motivieren, mehr als das unbedingt nötigste für seinen Teamleader zu tun. Auch die Teamführung von Red Bull dürfte nicht sehr erfreut sein. Nicht nur, dass der Weltmeister eine direkte Anweisung missachtete. Dafür ist sein Standing im Team zu übermächtig, als das dies für ihn zu ernsthaften Problemen führen würde. Aber nun brodelt eine alte Geschichte vom diesjährigen Monaco-GP wieder hoch. Angeblich hätte dort Perez im Qualifying absichtlich seinen Renner in die Mauer gecrasht, um eine schnelle Runde Verstappens zu verhindern. Dies nimmt ihm der Niederländer immer noch übel. Allerdings wäre so ein Verhalten von Perez grob regelwiedrig gewesen. Dies wurde nie bewiesen oder auch nur untersucht. Dass dieses Thema nun durch Verstappens Verhalten hochkocht, kann Red Bull nun überhaupt nicht gebrauchen. Mal sehen, was da noch kommt.
George Russell
Was für ein fantastisches Gefühl. Ein riesiges Dankeschön an das gesamte Team, das dies möglich gemacht hat. Es war eine emotionale Achterbahnfahrt, diese Saison, dieses Rennen. Ich hatte das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, Lewis war superschnell, und als ich dann das Safety Car sah, dachte ich, das wird ein schwieriges Ende. Er hat mich so sehr unter Druck gesetzt. Aber ich bin sehr glücklich, dass ich den Sieg geholt habe. Auf der Runde zurück an die Box kamen all diese Erinnerungen in mir hoch, angefangen bei meiner Mutter und meinem Vater im Go-Kart, bis hin zu all der Unterstützung, die ich vom Rest meiner Familie, meiner Freundin, meinem Trainer und meinem Manager bekommen habe. Ich dachte an Menschen wie Gwen, der mir die Möglichkeit gab, bei Mercedes in das Programm einzusteigen, sowie James Vowles und Toto. Ich kann allen nicht genug dafür danken.
Lewis Hamilton
Ich gratuliere George ganz herzlich. Er hat heute eine unglaubliche Leistung gezeigt, und auch gestern im Sprint hat er einen tollen Job gemacht. Er hat es also wirklich verdient. Ich bin so stolz auf alle im Team, sowohl in der Fabrik als auch hier an der Rennstrecke. Dies ist ein unglaubliches Ergebnis - wir haben in diesem Jahr so hart gearbeitet, um einen Doppelsieg zu holen und ein Rennen zu gewinnen. Das haben wir uns alle sehr, sehr verdient, also ein großes Dankeschön an euch alle!
Andrew Shovlin
Das Schöne an einem Jahr ohne Siege ist, dass man sich daran erinnert, wie besonders sie sind und wie gut sie sich anfühlen. Was für ein Ergebnis! Herzlichen Glückwunsch an George, der ein perfektes Rennen fuhr - er fühlte sich an der Spitze so wohl, und das wird zweifellos der erste von vielen Siegen sein. Auch Lewis hat eine fantastische Aufholjagd gezeigt. Wir dachten schon, er wäre nach der Kollision mit Max aus dem Rennen, aber er hat eine brillante Leistung hingelegt und ist wieder auf P2 gefahren. Das Team in Brackley und Brixworth hat einen fantastischen Job gemacht, um dies zu ermöglichen. Wir hatten keine Ahnung, dass wir dies erreichen würden, wenn man bedenkt, wo wir zu Beginn des Jahres standen, aber heute sind wir froh, dass es eine lange Saison ist, denn wir hätten dieses Ergebnis nicht verpassen wollen. Die Ingenieure und Fahrer haben gute Arbeit geleistet, um das Auto mit nur einem einzigen Training am Freitag richtig abzustimmen. Wir haben die Reifen gut genutzt, und es war schön zu sehen, dass wir eine starke Pace hatten. Jetzt freuen wir uns auf das letzte Rennen in Abu Dhabi. Es war eine harte Saison für das gesamte Team, aber sie hat uns für 2023 noch mehr motiviert, um sicherzustellen, dass wir voll durchstarten können.
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