Wenn es in einem Fahrbericht um rassige AMG-Modelle geht, fällt es dem Leser nicht schwer nachzuvollziehen, dass das Fahren mit solch einem Wagen ein äußerst emotionales Erlebnis ist. Schon allein die blanken Leistungsdaten wie beispielsweise 564 PS und 900 Nm im Falle des Mercedes-Benz SL 63 AMG mit Performance Package sind eine deutliche Ansage. Im Gegensatz dazu wirken 625 PS bei der stärksten SLT-Motorisierung nicht gerade spektakulär, da beeindrucken die 3.000 Nm und 15,6 Liter Hubraum des 6-Zylinder-Turbo-Reihenmotors schon deutlich mehr.
Euro 6, äußerst effizient & bärenstark: Der 15,6-Liter-Reihen-Sechszylindermotor OM 473 LA
Spätestens wenn der Lkw-unkundige Pkw-Fahrer erfährt, dass der SLT schon bei 1.600 U/min seine maximale Leistung erreicht, bereits 2.400 Nm bei gerademal 800 U/min anliegen und er bis zu 250 Tonnen Gesamtgewicht zieht, steht ihm das Staunen ins Gesicht geschrieben. Und das hält bei der Erwähnung des vollautomatischen PowerShift-16-Gang-Getriebes, der völlig verschleißfreien Turbo-Retarder-Kupplung oder 646 PS starken Dekompressions-Motorbremse offensichtlich an.
Die Teststrecke in Münsingen verlangt Höchstleistungen von einem Schwerlast-Transporter
Schon die statische Vorstellung des SLT bei der Weltpremiere im LKW-Werk Wörth Anfang des Jahres war äußerst beeindruckend. So war ich sehr gespannt auf den Driving Event mit dem SLT, der auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Münsingen auf der Schwäbischen Alb stattfand. Dort standen vor dem alten Lager zwei SLT auf Basis des Actros und Arocs mit Schwerlast-Kränen auf den Aufliegern zur Testfahrt bereit sowie zwei Test-Züge, die Auflieger vollgepackt mit Lastgewichten und mit einer eindrucksvollen Gesamtlänge von 21 Metern. Am Kopf der beiden 10-achsigen Auflieger wartete jeweils ein Actros 4163 LS 8x4 SLT, bestückt mit der stärksten Variante der neuen BlueTec-6-Maschine, satte 170 t Gesamtzugmasse in Bewegung zu setzen.
Mit solch einem 170-t-Brocken sollte es später auf die alte Panzerringstraße gehen, eine Teststrecke, die genug Widrigkeiten parat hat, einem Schwerlast-Transporter Höchstleistungen abzuverlangen und den Fahrer unter Umständen ins Schwitzen zu bringen. Ich war sehr gespannt, wie sich der SLT hier schlagen würde, doch für unsere Journalistengruppe standen zuerst ein paar Runden auf dem vorbereiteten Handling-Parcours an, optimal, um erst einmal ein Gefühl für den SLT und dessen Dimensionen zu bekommen, in diesem Fall ein Arocs 4163 8x4 SLT mit einem Schwerlastkran von Liebherr auf einem großen, 6-achsigen Tiefbett-Auflieger.
VIDEO: Mercedes-Benz Actros SLT mit Auflieger unterwegs auf der Münsinger Teststrecke
Zusammen mit einem Pressekollegen und dem SLT-Begleiter kletterten wir in die luftgefederte GigaSpace-Kabine. Nach dem Einstieg in das äußerst geräumige und komfortable Fahrerhaus mit 2,13 m Standhöhe fühlte ich mich sofort heimisch. Das ergonomisch perfekte Cockpit und die Bedienungselemente sind mit dem des normalen Arocs oder Actros identisch und waren uns schon von anderen Testfahrten her bekannt. Dementsprechend kurz fiel das technische Briefing durch den SLT-Begleiter aus.
Turbo-Retarder-Kupplung & Rangier-Modus - die ideale Kombination wenn es eng wird
Die Fahrt begann mit der Durchfahrt einer mit Barrieren eng eingegrenzten Schikane. Motor starten, PowerShift-Wählhebel nach vorn, Feststellbremse lösen und Gas geben. Eine kleine Kontrollleuchte zeigt die Aktivität der Turbo-Retarder-Kupplung an, in die Öl gepumpt wird, der SLT geht langsam vorwärts. Mit dem Gaspedal, das die Ölfüllmenge in der geschlossenen Turbo-Retarder-Kupplung (kurz TRK) und damit den Schlupf reguliert, lässt sich der SLT feinfühlig in Slow-Motion bewegen.
Langsam geht es voran und es wird ziemlich eng. In der Schikane ist zwischen Gespann und Barrieren nur sehr wenig Platz, um sich bei dieser Länge durchzuschlängeln. Unser Begleiter gibt Hilfestellung und darauf den Tipp: Im hydraulischen Rangiermodus geht das Ganze einfacher, da kann sich der Fahrer völlig aufs Lenken konzentrieren. Den Rangier-Modus per Taste aktiviert und der SLT kriecht nun von alleine vorwärts. Dabei bieten die zahlreichen großen Spiegel am SLT in alle Blickrichtungen eine hervorragende Gesamtübersicht und Abstandskontrolle und wenig später ist die Schikane geschafft.
Nach einem weiten Bogen über den Platz wartet das nächste Hindernis auf das SLT-Gespann: Auf der linken Seite der Fahrspur liegt ein großer, massiver Holzblock mit abgeschrägten Kanten, der eine starke, einseitige Fahrbahnunebenheit simulieren soll. Nach einem kurzen Stopp davor geht es weiter. Langsam nähert sich das linke Vorderrad des SLT dem Block, federt ein und läuft geschmeidig darüber.
Rad für Rad das gleiche Spiel, dann folgen die Räder des Aufliegers, die genauso problemlos über den Block rollen. Von außen betrachtet sieht dieser technische Bewegungsablauf einfach genial aus er erinnert stark an die perfekt fließende Fortbewegung einer Blattraupe über ein Hindernis.
Das Actros SLT-Gespann: 21 Meter lang und satte 170 Tonnen Gesamtzuggewicht
Nach dem nächsten interessanten Workshop, wo es um die komplexe und langwierige Planung von Schwerlast-Transporten ging, stand die mit Spannung erwartete Tour über die Panzerringstraße an. Doch vorab kontrollierten die Profis durch Höhenmessungen an allen Achsen des Aufliegers das Druckluftniveau, um die bei Schwerlast-Transporten äußerst wichtige, gleichmäßige Achslastverteilung zu gewährleisten. Dann konnte es losgehen: Feststellbremse lösen, Wahlhebel nach vorn und aufs Gas, der bullenstarke Actros 4163 LS 8x4 SLT bringt das 21 Meter lange 170-t-Gespann in Bewegung.
Die PowerShift-3-Automatik schaltet das 16-Gang-Getriebe clever und blitzschnell
Die grüne Kontrollanzeige der hydraulischen TRK leuchtet während dem Anfahren, dann übernehmen die als Parallel-System konstruierte Einscheiben-Trockenkupplung und PowerShift die Kraftübertragung. Vom Place de France geht es hinunter und nach rechts in die Streckeneinfahrt. Trotz des langen Schwerlast-Aufliegers gestaltet sich das Abbiegen dank seiner zwangsgelenkten Achsen überraschend einfach, dann nimmt der SLT Fahrt auf, während die optimierte PowerShift 3 das 16-Gang-Getriebe rasant hochschaltet und dabei einzelne Gänge überspringt.
Auf dem ersten Gefälle wird der SLT zusehend schneller. Net vergesse, mir sind mit hundertsiebzig Tonnen unterwegs., mahnt unser smarter SLT-Begleiter auf´m Rückbänkle, ein alter, superkompetenter Lkw-Hase, mit dem ich schon einige tolle Schwätzle halten durfte. Irgendwie täuschen das faszinierend unkomplizierte Handling des SLT und die optisch eher unscheinbare Ladung aus flachen Eisenguss-Gewichten über die brutale Masse hinweg, die den SLT inzwischen mit 25 km/h mächtig bergab schiebt. Da flößt die Vorstellung, dass hier vergleichsweise zwei E-Loks - oder umgerechnet 200 Smart Fortwo - in Bewegung sind, wieder schnell den nötigen Respekt ein!
Komplett verschleißfreies Bremsen ohne Betriebsbremse - die Dekompressionsmotorbremse und TRK machen es möglich
Der SLT läuft inzwischen mit auf Stufe 2 aktivierter Dauerbremse, die Drehzahl ist auf 2.100 U/min gestiegen. Bis maximal 2.300 Umdrehungen sind in Ordnung, Tempo noch etwas drosseln., sagt unser Profi dem Pressekollegen am Steuer. Den Wählhebel auf Stufe 3 und die Kombination aus Motorbremse und TRK, die jetzt als starker Primär-Retarder arbeitet, bremst den SLT weiter ab, die Drehzahl bleibt bei 2.200 U/min stehen. Wohlbemerkt, die ganze Talfahrt hatte der SLT bis jetzt völlig verschleißfrei abgebremst, ohne dass die Betriebsbremse ein einziges Mal benötigt wurde. Zum Bergabfahren kann übrigens auch die Limiter-Funktion des Geschwindigkeitsreglers genutzt werden., erwähnt unser Begleiter. Dazu wird einfach das maximale Tempo eingegeben und danach fährt der SLT komplett automatisch alleine abwärts. Eine komfortable Variante, aber in der kurzen Zeit war es natürlich viel interessanter, den SLT aktiv zu fahren.
Inzwischen stand die erste Steigung an. Jetzt möglichst den Schwung voll mitnehmen., rät unser Begleiter kurz vor der Talsohle, und noch ein Tipp, zuerst aufs Gas gehen und dann die Dauerbremse rausnehmen. Perfekt, ohne Ruckeln geht der SLT fließend in die Zug-Phase über und das Gespann fährt mit knapp 25 km/h bergauf. Das bullige 15,6-Liter-Aggregat entfaltet bei 1.600 U/min seine volle Leistung, parallel schaltet das Vortriebsmanagement der Steigung entsprechend in passenden, schnellen Sprüngen die Gänge runter. Doch der Anstieg und die 170 Tonnen fordern erbarmungslos ihren Tribut und drosseln die Geschwindigkeit Sekunde um Sekunde weiter runter. Wenig später zeigt der Tacho nur noch 9 km/h an, mit denen der SLT bei optimaler Motordrehzahl im 4. Gang stoisch vorwärts zerrt.
Hohe Laufkultur und Leistung in allen Drehzahllagen - der OM 473 Motor mit Compound-Aufladung
Als die Steigung abnimmt, schaltet die PowerShift 3-Automatik ohne zu zögern wieder optimal hoch und auf der Bergkuppe angekommen, beginnt das Gespann merklich zu beschleunigen. Was noch auffällt ist, dass der Motor des SLT die ganze Zeit ziemlich unauffällig arbeitet, was unter anderem seiner Compound-Aufladung zuzuschreiben ist. Selbst unter Volllast am Berg bleibt die Geräuschentwicklung in der Fahrerkabine moderat und auf der Geraden in den hohen Gängen bleibt das sonore Motorengeräusch unaufdringlich im Hintergrund. Das bedeutet für den Fahrer auch weniger unterschwelliger Lärmstress bei einem stundenlang dauernden Schwerlast-Transport.
Anfahren und Abseilen mit 170 t am Berg - der SLT meistert jede Situation mit Bravour
Auf der nächsten Steigung wollen wir den Härtefall provozieren: Das Anfahren am Berg mit 170 Tonnen Gesamtzuggewicht. Kein Problem, können Sie gerne machen., sagt unser Co-Pilot zum Fahrer, der den Zug bis zum Stillstand abbremst. Die Spannung steigt, dann löst er die Feststellbremse und tritt voll aufs Gas. Der stehende SLT geht voll auf Zug, verharrt für einen kurzen Moment, dann setzt sich das schwere Gespann in Bewegung. Man hört und spürt förmlich, wie sich der SLT, die riesige Masse des Aufliegers im Kreuz, mit voller Kraft bergauf kämpft. Dabei nutzt die Automatik jede kleinste Chance, um blitzschnell hochzuschalten. Kurz sackt die Kabine ab, schon ist der nächste Gang drin, der Motor läuft wieder im optimalen Drehzahlbereich und der SLT zerrt unaufhaltsam weiter. Unsere Reaktionen auf diese herausragende Performance reichen von spontanen Kommentaren wie Wow!, Ungaublich!, oder Sagenhaft! bis hin zu bloßem Kopfschütteln unser alter Hase lächelt dazu verschmitzt.
Bei der Gelegenheit können wir gleich noch das Abseilen, d.h. Fahren gegen die Steigung im falschen Gang, ausprobieren., schlägt er vor. Mal so weit vom Gas gehen, bis wir stehenbleiben. Der Zug wird langsamer, nach einigen Metern bleibt er - ohne zu bremsen - am Berg stehen, nur die aktive TRK hält diesen Status quo aufrecht. Noch etwas weniger Gas, dann beginnt der Zug langsam rückwärts zu kriechen und zwar im dritten Vorwärtsgang! Wieder mehr Gas, der Zug bleibt stehen, noch mehr Gas und es geht wieder vorwärts. Dieses mörderische Spielchen wiederholen wir dank der TRK völlig problemlos, eine konventionelle Reibkupplung dagegen wäre jetzt abgeraucht, und ein normaler Drehmomentwandler hätte wegen Überhitzung den Dienst quittiert. Zudem ergibt die Abfrage der Temperatur im SLT-Kühlsystem 105 Grad, also auch hier ist alles im grünen Bereich.
Actros SLT & Arocs SLT - zwei Super-Trucks für schwerste Anforderungen jeglicher Art
Nach einer weiteren Tal- und Bergfahrt erreichen wir auf einem Plateau den Wendepunkt der Testfahrt, dann geht es den gleichen Weg zurück in Richtung altes Lager. Dort angekommen klettern der Kollege und ich völlig begeistert aus der Fahrerkabine: Eine äußerst beeindruckende Vorstellung, die der SLT da auf der Tour geboten hatte, und die auch emotional ein unvergessliches Fahrerlebnis war. Gleichgültig wie extrem die Anforderungen gewesen waren, mit denen der König der schweren Sterne konfrontiert wurde, der SLT erledigte souverän die ihm gestellten Aufgaben, ohne dass der Fahrer dabei ins Schwitzen kommen musste. Ohne Zweifel, der SLT ist ein High-Tech-Truck, dem der Fahrer in jeder Situation absolut vertrauen kann, ganz nach dem Motto: Geht nicht? Gibt´s nicht!
Text: Andreas Loleit Bilder: Daimler AG / Andreas Loleit
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