Die technische Sensation beginnt mit einem sehr lauten Knall. Mit 60 km/h rammt eine Vorrichtung mit Stoßbarriere die orangefarbene C-Klasse Limousine und trifft sie voll in der Seite. Crashtests sind immer etwas Besonderes – auch für die Experten. Aber das wirklich Spektakuläre sitzt bei diesem Seitenaufprall-Versuch in einem Gestell an der Hallendecke über dem Fahrzeug: Ein Linearbeschleuniger dient als Röntgenquelle. Zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, dem Ernst-Mach-Institut (EMI) in Freiburg, hat Mercedes-Benz jetzt den weltweit ersten Röntgencrash mit einem realen Pkw durchgeführt. An Bord waren auf der stoßzugewandten linken Seite zwei Dummys des Modells SID IIs. Das sind Prüfkörper mit weiblicher Anatomie, speziell ausgelegt für Seitenaufprallversuche.
Mit der Kurzzeit-Röntgentechnologie lassen sich hochdynamische innere Deformationsvorgänge darstellen, das hat diese Technologiedemonstration in der EMI-Forschungscrashanlage bei Freiburg ergeben. Bisher unsichtbare Verformungen und ihre exakten Abläufe werden so transparent. Die zahlreichen, hochauflösenden Bilder erlauben eine genaue Analyse.
„Der Röntgencrash von Mercedes-Benz setzt einen Meilenstein bei den Entwicklungstools der Zukunft. Er kann mit dem direkten Blick ins verborgene Innere helfen, wichtige Rückschlüsse für die weitere Verbesserung der Fahrzeugsicherheit zu ziehen“, sagt Markus Schäfer, Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz Group AG, Chief Technology Officer. Prof. Dr. Paul Dick, Direktor Fahrzeugsicherheit, Mercedes-Benz AG, ergänzt: „Der weltweit erste Röntgencrash zeigt, dass sich mit der Röntgentechnologie aufschlussreiche neue Einblicke gewinnen lassen. Wir erfahren, was während eines Unfalls im Innern eines Fahrzeugs und mit den Dummys passiert. Die Röntgenbilder bieten auch die Chance, die Modellqualität der digitalen Prototypen weiter zu erhöhen.“
Kurzzeit-Röntgentechnologie: bis zu 1.000 Bilder pro Sekunde
Seit mehreren Jahren forscht der Bereich Fahrzeugsicherheit von Mercedes-Benz zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen des EMI am Einsatz von Röntgentechnologie bei Crashversuchen. Entscheidend für den Durchbruch war es, einen Linearbeschleuniger mit 1-kHz-Technologie als Strahlenquelle einzusetzen. Das Gerät ist weitaus leistungsfähiger als die vorher versuchsweise verwendeten Röntgenblitze: Die Photonenenergie des Linearbeschleunigers beträgt bis zu neun Megaelektronenvolt. Damit lassen sich alle im Fahrzeugbau üblichen Materialien durchleuchten. Die Dauer des Röntgenpulses beträgt nur wenige Mikrosekunden. Das erlaubt es, Deformationsprozesse im Crashtest ohne Bewegungsunschärfe aufzuzeichnen. Zudem erzeugt der Linearbeschleuniger einen kontinuierlichen Strom dieser Röntgenpulse. Dadurch sind bis zu 1.000 Bilder pro Sekunde möglich. Das sind etwa 1.000 Mal so viele wie bei herkömmlichen Röntgenverfahren.
Während des Crashtests durchleuchten die Strahlen von oben die Karosserie und etwaige Dummys. Ein Röntgen-Detektor befindet sich unter dem Versuchsfahrzeug. Er dient beim Röntgensystem als digitaler Bildempfänger: Trifft die Strahlung auf den Detektor, wird ein elektrisches Signal erzeugt. Wie intensiv dieses ausfällt, hängt davon ab, wie stark die Strahlung zuvor von der Fahrzeug- und Dummystruktur absorbiert wurde. Das beeinflusst den später sichtbaren Grauwert – analog der Röntgenkontrolle des Gepäcks am Flughafen oder entsprechenden Aufnahmen bei der Ärztin oder dem Arzt.
In der eigentlichen Aufprallzeit von einer Zehntelsekunde schießt das Röntgensystem etwa 100 Standbilder. Zu einem Video zusammengefügt, geben sie hochspannende Einblicke, was sich während des Crashs im Innern sicherheitsrelevanter Bauteile und im Körper des Dummys abspielt. So lässt sich in allen Einzelheiten beobachten, wie der Thorax des Dummys eingedrückt wird oder sich ein Bauteil verformt. Wichtig auf dem Weg von der Forschung zum industriellen Einsatz: Der Röntgencrash beeinflusst keine anderen Analysetools. Auch die Innenraumkameras des Crashtestfahrzeugs zeichnen ungestört auf.
Für den Röntgencrash haben die Fachleute des EMI ein umfangreiches Strahlenschutzkonzept erstellt. Mit Dosimetern wird überwacht, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keiner Strahlung ausgesetzt sind. Die Regierungsbehörde hat den Betrieb der Anlage nach den gesetzlichen Vorgaben genehmigt. Zu den aufwendigen physischen Schutzmaßnahmen zählen eine zusätzliche, 40 Zentimeter starke Betonwand rings um das Gebäude sowie eine rund 45 Tonnen schwere Strahlenschutztüre.
Bildergalerie: Mercedes-Benz röntgt Crashtest
6 Bilder Fotostrecke | Als weltweit erster Autohersteller röntgt Mercedes-Benz einen Crashtest:
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