Seit fast 45 Jahren im Alltagseinsatz und das im Erstbesitz! So etwas gibt es nicht etwa nur im sonnigen Kalifornien, sondern mitten im Ruhrgebiet - in Castrop-Rauxel. Ausgeliefert zu einer Zeit, als hier noch kein blauer Himmel herrschte, sondern Kohle und Stahl das Landschaftsbild prägten. Doch der Reihe nach
Es geht um eine 200 D Heckflosse, bestellt am 01.07.1965, ausgeliefert Anfang 1967 - so war das eben damals mit den Lieferzeiten!- von der Mercedes-Benz Niederlassung Dortmund und noch am Erstzulassungstag auf den heutigen Besitzer übergegangen. Seither in sprichwörtlicher Diesel- Zuverlässigkeit ununterbrochen im Alltagseinsatz und nie restauriert. Mit roter MB-Tex Innenausstattung, Schiebedach und Weißwandreifen sowie weißer Sonderlackierung (DB 50) echtes Symbol des Wohlstandes, der damals auch den Mittelstand erreicht hatte.
Der Besitzer nennt seine Heckflosse liebevoll Oma
Besitzer ist ein ehemaliger Anstreichermeister, dem es etwas leid tut, dass er die "Oma", wie er seinen Weggefährten liebevoll nennt, heute fast nur noch im engeren Umkreis einsetzt und die Zeiten längerer gemeinsamer Fahrten Geschichte sind. Aber so ist das nun einmal, wenn man zusammen älter wird Da bereut man hin und wieder, das Auto nicht mit der seinerzeit optionalen Servolenkung gekauft zu haben, im heutigen Kurzstreckenverkehr wäre das doch recht praktisch. Aber wer konnte damals schon für ein so langes gemeinsames Leben planen?
Historischer Rückblick
Seit 1959 wurde die Baureihe W 110 angeboten, zunächst als 220 S. Mit ihrer Trapezform, den Panoramascheiben und einem 680 l Kofferraum Repräsentant einer neuen Zeit, der zeigte, dass man es zu etwas gebracht hatte. 1961 kamen die Vierzylindermodelle der Baureihe W110 auf den Markt, zunächst als 190c und 190 Dc, seit 1965 als 200er Modelle. 973.000 Heckflossen wurden bis 1968, dem Zeitpunkt der Ablösung durch den Strich-Acht, insgesamt gebaut. Die konsequente Einführung von Sicherheitstechnik durch Bela Barényi, den Vater der Sicherheitsfahrgastzelle und der Knautschzone, war das Merkmal des W 110. Seinerzeit außergewöhnliche Sicherheitstests so brachte man unter Anderem ein Fahrzeug mit 80 km/h über eine Rampe zum Überschlagen - waren Bestandteile der Entwicklungsarbeiten.
Sicherheit für die Heckflosse
Nicht nur die Knautschzone wurde hier erstmals verwirklicht, hinzu kamen Details wie das gepolsterte Armaturenbrett und das Lenkrad mit elastischer Prallplatte in der Nabe. 1963 erhielt der 190er ein Zweikreisbremssystem und Scheibenbremsen an den Vorderrädern. Als Zusatzausstattung war ab April 1964 eine Servolenkung im Angebot.
Der 200er war ein aufgemopfter 190er
Im August 1965 lösten die 200er Modelle die bisherigen 190er ab. Äußerliche Unterschiede waren die vordere Blinker-/Standlicht-/Nebelscheinwerferkombination, die geänderten gelben Rücklichtergläser und die mit einem Chromstab verzierte Zwangsentlüftung an der C Säule. Die Maschine war im Unterschied zur Vorgängerin fünffach gelagert, ein echter Komfortgewinn.
Übernommen vom Vorgänger des W 110, dem Ponton, wurde der als Ganzes mit den vorderen Radführungen und dem Motor ausbaubare Fahrschemel. Die Hinterachse erhielt zur
Verbesserung der Straßenlage eine Ausgleichsfeder.
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Wer denkt da zurückblickend auf die sportliche Geschichte von Mercedes-Benz nach dem Rückzug aus dem Rennsport nicht an die Straßenerfolge von Eugen Böhringer mit seinen legendären Heckflossen? Eugen Böhringer, der Mann, bei dem die Flosse fliegen lernte
Der W110 war erfolgreich im Motorsport
1961, also zwei Jahre nach der Markteinführung des W 110, wurde er mit Rauno Aaltonen Vize-Rallye-Europameister und 1962 mit Lang Rallye-Europameister, jeweils auf einem 220 SE. 1963 und 1964 gewann er unter Anderem auf einem 300 SE den argentinische Gran Premio International de Turismo, bekannt als das härteste Straßenrennen der Welt. Zweite und Dritte wurden hier jeweils Dieter Glemser und Evi Rosqvist, ebenfalls auf einer 300 SE Heckflosse. 1964 kamen übrigens von 264 Teams, die in Buenos Aires gestartet waren, nur 58. ins Ziel, ein Beweis für die Anforderungen des Rennens.
Ein Fieberthermometer zeigt die Geschwindigkeit an
Doch zurück auf die andere Seite der Heckflossenwelt zu unserer Oma. Angetrieben von einem 55 PS Diesel geht es dort um einiges gemächlicher zu: Um die knapp 1,4 Tonnen wiegende Limousine von 0 auf 100 km/h zu bringen, vergehen 28 Sekunden. Aber seinerzeit brauchte ein 34 PS Käfer hierzu immerhin 33 Sekunden. Mit 130 km/h erreicht das Fieberthermometer, der etwas gewöhnungsbedürftige Bandtacho, seinen Höchststand. Das Instrument hat eine vertikal laufende Walze. Die Geschwindigkeit wird bis 50 km/h in Gelb, bis 75 km/h in Gelb/Rot und darüber in Rot (nicht zu schnell bitte!) angezeigt. Gegen zu rasches Ansteigen des Fieberwerts haben wir auf jeden Fall unsere 55 PS unter der von innen bis zum Stern fast endlos erscheinenden Haube. Dabei handelt es sich bei unserem Diesel nur um die mit ihren vier Metern und dreiundsiebzig Länge kleine Heckflosse, bei der der Vorderwagen gegenüber den Sechszylindern um 14,5 cm gekürzt ist.
Ungeachtet dieser Daten spielte der Diesel eine Hauptrolle in der Palette der W110. Das spricht für seine Wirtschaftlichkeit, seine zuverlässige Robustheit und die Zufriedenheit der Kunden. Letztere gab wohl auch den Ausschlag dafür, dass unsere Oma immer noch in der Garage ihres ersten Fahrers steht.
Die Peilstege im Heck gaben dem W100 seinen Spitznamen
Heckflossen hatte das Auto natürlich nie, die hinteren Kotflügel trugen laut Werksjargon Peilstege, um das Rückwärtsrangieren und Einparken zu erleichtern. Abstandswarner standen seinerzeit noch nicht im Ausstattungskatalog. Heckflossen oder Peilstege, im täglichen Einsatz unserer Oma auf jeden Fall ein hilfreiches Detail.
Zwar wurde 1964 eine Servolenkung als Sonderzubehör angeboten, unsere Flosse hat so etwas jedoch noch nicht (siehe oben!). Wie praktisch ist da doch das riesig erscheinende Lenkrad! Über die Annehmlichkeiten der seinerzeit gefragten Lenkradschaltung bestehen unterschiedliche Meinungen, als Alternative hätte auch eine Knüppelschaltung bestellt werden können. Links darunter ein Zugschalter zum Vorglühen, Anlassen und Abstellen, dazu der "Glühüberwacher" und ein Drehknopf, um die Leerlaufdrehzahl zu erhöhen. Diesel Fahren musste damals noch gelernt sein
Das Schiebedach und die klappbaren Armlehnen vorn und hinten sowie das Zusatzsitzkissen vorn, das den Wagen zum Sechssitzer macht, sind Teil der Sonderausstattung. Diese Zusätze verbreiten zusammen mit der übrigen großzügigen Innenausstattung den Eindruck eines mobilen Wohnzimmers, und erst der Wackeldackel auf der hinteren Ablage, angeschafft gleich nach Fahrzeugübernahme!
Damals brauchte man kein Radio und heute träumt der Besitzer sicherlich oft von damals, als die Oma brandneu und er noch jung war
Ein Radio hat das Auto nie gehabt, die Blende sitzt noch wie ausgeliefert. Also fehlt für den allgemeinen Wohnzimmergeschmack doch etwas, für den Besitzer offenbar jedoch nicht. Er träumt sicherlich - auf gar keinen Fall, wenn er sein Schmuckstück fährt, also auch nicht bei der Fahrt zum Fototermin auf Schloss Bladenhorst in Castrop-Rauxel - noch oft von damals, als die Oma brandneu und er noch jung war
Text: Friedrich W. Thüner
Fotos: Friedrich W. Thüner, Archiv
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