Wiener Schmäh, Wiener Würstchen, Wiener Schnitzel. Wiener Prater, Wiener Hofburg: Die österreichische Hauptstadt ist reich an Spezialitäten und Sehenswürdigkeiten. Manch Wiener Besonderheit ist freilich auch kurios und noch dazu dem Rest der Welt völlig unbekannt. Dazu zählt beispielsweise der Wiener Mercedes-Benz-Strich-Acht-Pickup, den der in Wien ansässige Karosseriebau-Spezialist Jauernig Ende der 60er Jahre fertigte. Nicht mehr als fünf Exemplare soll es von diesen W115-Umbauten made in Vienna gegeben haben. Der vermutlich letzte seiner Art dreht derzeit in Hannover seine Kreise und gehört MIB Andrew Pipien.
Der Chronist weiß, dass der Mercedes-Benz Strich-Acht auch amtlich als Pickup gefertigt wurde. Der 220d Pickup auf Basis der W115-Baureihe wurde zwischen 1972-1976 von Mercedes-Benz im Werk Gonzalez Catan (bei Buenos Aires) in Argentinien für den lokalen Markt gebaut. Er war seinerzeit als Einzel- und Doppelkabine erhältlich. Etliche dieser W115-Umbauten, welche die Argentinier liebevoll „La Pickup“ nennen, schaukeln bis heute durch die Pampa. Das ein oder andere Exemplar gelangt(e) lediglich als individueller Import auch bis nach Europa.
Ich such dich!
Auch der leidenschaftliche Sternfahrer Andrew Pipien suchte lange nach einem Strich-Acht Pickup aus argentinischer Produktion: „Ich fahre seit 30 Jahren nur Strich-Acht und habe alle Karosserievarianten mit Begeisterung pilotiert. Viele Jahre habe ich gesucht. Aber ein Exemplar aus Südamerika zu holen, war mir dann doch zu teuer. Dann habe ich meinen Wunsch-Mercedes 2011 als Verkaufsangebot im Internet entdeckt. Das Auto stand in Wien. Ich bin sofort nach Wien geflogen, um zu testen, ob ich als etwas größer gewachsener Mensch auch in der kleinen Fahrerkabine anständig sitzen kann“, erzählt der 57-Jährige. Und weiter: „Die Sitzprobe lief erfolgreich und also habe ich nicht lange mit dem Kauf gefackelt, zumal noch ein anderer sehr großes Kaufinteresse bei dem damaligen Besitzer angemeldet hatte.“
Pickup back to the roots?
Wer warf in Wien als Mitbewerber um den seltenen Wagen seinen Hut in den Ring? Es war die in Wien ansässige Mercedes-Benz Vertretung Jauernig. Ihr Wunsch, den Strich-Acht-Pickup zu erwerben, ist verständlich. Denn es war ja dieses Unternehmen, das 1969 eine Strich-Acht-W115-Kleinauflage von sehr wahrscheinlich nur fünf Exemplaren (die Angabe der Anzahl ist bei Jauernig nicht dokumentiert, gleichwohl recht zuverlässig überliefert) baute. Bis in die Gegenwart hat - soweit bekannt - nur ein einziges Fahrzeug überlebt. Dieses wollte Jauernig nun heim holen. Doch Andrew war schneller und ließ sich den seltenen Fund nicht mehr vor der Nase wegschnappen.
Sonderaufbauten von Jauernig
Wer ist eigentlich Jauernig? Das Unternehmen ist eines der ältesten Karosseriefachbetriebe in Österreich. Das Gründungsjahr des Familienunternehmens datiert auf 1911. Der derzeitige Inhaber ist der Enkel des Firmengründers. In den Nachkriegsjahren machte sich Jauernig als Spezialist für Sonderaufbauten schnell einen guten Namen in der Alpenrepublik. Ob komplizierte Feuerwehraufbauten, Aluminiumkarosserien für Möbeltransporter, Kulissenwagen, Kühlcontainer oder Pkw-Umbauten. Wer besondere Mobilität brauchte, war bei Jauernig seinerzeit an der richtigen Adresse. Der Karosseriebau wurde im Jahr 1972 übrigens wegen des hohen Platzbedarfes in die Firma "KAROS" ausgelagert, wo man auch einen Mercedes-Benz-LKW-Service-Stützpunkt betrieb. Die "KAROS" wurde in weiterer Folge verkauft, die Aufbauproduktion später geschlossen.
Mercedes-Spezialitäten "made in Vienna"
Dass Jauernig sich damals schnell einen größeren Bekanntheitsgrad erarbeitete, lag nicht zuletzt an den Kombi-Umbauten der Marke mit dem Stern. Ab 1949 entwickelte man verschiedene Kombi-Modelle - darunter auch auf Basis des Mercedes Benz Typ 190 eine voll ausgereifte Kombi-Karosserie mit umklappbarer Rücksitzbank, hochgestelltem Reserverad und voll ausgekleidetem Laderaum. Die Kombi-Produktion bei Jauernig endete erst 1978, als die Stuttgarter die erste Kombi-Karosserie auf Basis der Baureihe W123 auf den Markt brachten.
Willkommen in der Mercedes-Familie
Die Verarbeitungsqualität und Präzision der Mercedes-Umbauten der Firma Jauernig sollen den Verantwortlichen in Stuttgart so gut gefallen haben, dass man dem Wiener Karosseriebauer im Jahr 1968 schließlich eine Mercedes-Vertretung anbot. Bei Jauernig erachtete man diese Offerte, die übrigens gern angenommen wurde, als Ritterschlag. Nicht ohne Stolz ist auf der Internetpräsenz von Jauernig zu lesen. „Der Servicevertrag war damals die Folge der Kombi-Karosserieumbauten - aus heutiger Sicht unglaublich.“
Strich-Acht als Kombi und Pickup
Der Strich-Acht wurde bei Jauernig überwiegend zu einem Kombi-Modell transformiert. Und dann gab es da aber noch den so genannten „Plateu-Wagen“ aka Pickup. Von letzterem sollen, wie gesagt, lediglich fünf Exemplare in Wien gefertigt worden sein. Die hierfür umgebauten Wagen wurden, wie Andrew zwischenzeitlich recherchiert hat, als 220D/8 Fahrgestell mit Teilkarosserie 115 AM (Auswärts-Montage) im Januar 1969 nach Wien zu Jauernig verfrachtet. Die einzigen Extras ab Werk waren laut Datenkarte die durchgehende Sitzbank und eine Servolenkung.
Strich-Acht-Pickup-Bio
Andrews Strich-Acht-Pickup wurde am 08.09.1970 erstmalig zugelassen. Er tat dann acht Jahre seinen Dienst als Servicewagen bei der Mercedes-Benz Vertretung Pappas in Wien. Das Auto ging danach noch in die Hände von drei weiteren Besitzern über. Seit 2011 nun ist Andrew der neue Eigentümer. Die Angaben im österreichischen Typenschein (Lastkraftwagen, umgebaut aus Personenwagen, offen, Pritsche, umlegbare Bordwände, geschlossenes 2-sitziges Führerhaus) hat der deutsche TÜV übrigens klaglos übernommen. Der Strich-Acht Pickup ist demnach heute noch mit Lkw Zulassung unterwegs.
Artenschutz und Bestandspflege
Nachdem Andrew die Schlüsselgewalt besaß, wurde der Strich-Acht restauriert. Bestandspflege tut bis heute not und ist quasi ein Dauerthema, um den letzten seiner Art vor dem Aussterben zu bewahren. Viel gefahren wird der seltene Pickup ohnehin nicht. „Kaum mehr als 2.000 Kilometer fahre ich mit diesem Stern. Fürs Herumjuchteln ist er einfach zu schade.“, sagt der MIB. Die geringe Fahrleistung ist denn auch ein Grund, warum für viele Mercedes-Enthusiasten die Chance eher klein ist, den Jauernig-Umbau einmal in Aktion zu sehen. Und doch gibt es eine Möglichkeit diesen seltenen Stern live zu erleben. Auf dem ein oder anderen Meeting zeigt er sich natürlich. So z.B. bei SCHÖNE STERNE auf Henrichshütte im letzten Jahr und in diesem Jahr ganz sicherlich bei manchem Klassiker- und Strich-Acht-Meeting, etwa am 14.09.2019 beim 6. Hamburger Strich-Acht-Tag. Übrigens stellt Andrew das Auto das Auto auch schon mal als Werbefahrzeug für Messen, Oldtimer- oder Outdoorveranstaltungen zur Verfügung. Interesse? Dann gern bei uns melden, wir leiten die Anfragen dann weiter.
Text & Fotos: Mathias Ebeling
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