Schon lange vor der X-Klasse hatte Mercedes einen Pickup im Programm. Der „La Pickup“ basierte auf dem legendären Strich-Acht-Modell und wurde in Argentinien verkauft. Eine Fahrt in dem südamerikanischen Pritschenwagen ist ein ganz besonderes Erlebnis.
Die Start-Prozedur des betagten Vierzylinder-Diesels ist eine Rückkehr in eine längst vergangene Automobil-Zeit. Einer Ära, als Willy Brandt noch Bundeskanzler war, die Mauer noch stand und die Bundesrepublik von der Ölkrise heimgesucht wurde. Erst dreht man rechts am Zündschlüsse, dann zieht man etwas weiter links einen Knopf heraus und wartet 15 bis 20 Sekunden, bis es hinter dem zentralen Stahlgitterkreis rötlich schimmert. Das ist das visuelle Signal dafür, dass das Vorglühen beendet ist. Jetzt zieht man den Knopf mit viel Schmackes ganz heraus und der Vierzylinder-Motor (OM 615) erwacht so rumpelnd zum Leben, dass sich das ganze Fahrzeug wie bei einem kalten Windstoß schüttelt. Jetzt bloß kein Gas geben, hatte die freundliche Mercedes-Mitarbeiterin eingeschärft, also zuckt der rechte Fuß zurück und das Aggregat und damit die ganze Karosserie beruhigt sich nach einer halben Minute.
Der 220D mit seinen 60 PS "entschleunigt"
Wir sitzen -pünktlich zum 50jährigen Jubiläum – in einem „Mercedes Strich-Acht“. So genannt, weil die Baureihe W114 / W115 im Jahr 1968 auf den Markt kam. Als wenn das nicht schon spannend genug wäre, ist das Fahrzeug nicht irgendein Strich-Achter, sondern im „La Pickup“, dem Pritschenwagen, der in Argentinien ab 1972 gebaut wurde. Unser karminrotes Exemplar kam über Umwege nach Deutschland ist pünktlich zum runden Geburtstag der Baureihe wieder fahrbereit. Die Beine flutschen nicht ganz so selbstverständlich, wie bei einem modernen Auto, unter das große Volant mit dem mächtigen Pralltopf und das graue Hartplastik-Interieurs verströmt den Charme der frühen 1970er Jahre, als im Flieger noch geraucht und in den Vorstandsetagen gerne auch mal ein oder zwei Mittagscognacs zu sich genommen wurden. Urdeutsche Qualität, nichts knarzt, nichts klappert und die Linien des Cockpits sind wie mit dem Lineal gezogen.
Kam 1972 in Argentinien auf den Markt: „La Pickup“
In den Ledersitzen lümmelt man bequem, fast, wie in einem Sofa, von Ergonomie fast keine Spur. Ist auch nicht nötig. Der 220D mit seinen 60 PS entschleunigt, und das in einer Art, die süchtig macht. Die vier Töpfe wummern, wie ein ein klassischer Schiffsdiesel und jeder Beschleunigungsversuch entlockt dem Antriebsstrang mit der gemütlichen Viergangautomatik ein sanftes Lächeln. Tempobolzen? Ich bitte Sie! Das ist doch trivial. Mehr als 135 km/h sind eh nicht drin. Schon bald erliegt man der positiven Aura des 2,2-Liter-Motors, der mit seinen Drehmoment von126 Newtonmetern und einem geringen Verbrauch für viele Jahre des Taxifahrers bester Freund war. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und den Arm auf der Fahrertür schwimmt man mit dem Sternen-Südamerikaner im Verkehr mit. Der spöttische Name „Wanderdüne“, der für diese Motorisierung gerne gebraucht wird, schießt einen durch den Kopf. Ja, und? Klar kann ich nicht, ich will nicht, weil ich auch nicht muss, scheint der Selbstzünder den Kritikern entgegenzuschmunzeln.
La Fotostrecke zum W115-Pickup
19 Bilder Fotostrecke | Fahrbericht: Mercedes La Pickup (W115): Sternen-Gaucho
Diese lateinamerikanische Gelassenheit passt zu dem Pritschenwagen, der in Argentinien 1972 als „La Pickup“ auf den Markt kam. Die damaligen strengen Bestimmungen verboten den Import von kompletten Fahrzeugen also schlugen die cleveren Schwaben den Protektionismus ein Schnippchen, führten den Pritschenwagen in Einzelteilen ein und setzen diese einzelnen Module in der Fabrik „Gonsález Catán“ nahe der Hauptstadt Buenos Aires zum Pritschenwagen zusammen. Den Pickup gab es sowohl mit einer Einzel- als einer Doppelkabine. Die rustikale Genügsamkeit des Sternen-Gauchos war zwischen den Anden und dem Atlantik sehr gefragt und die Argentinier – seien es Winzer, Farmer oder Rinderzüchter - schlossen den deutschen Pritschenwagen ins Herz. Egal was auf die Ladefläche gewuchtet wurde, der La Pickup transportierte es klaglos und zuverlässig. Noch heute rollen einige Exemplare über die Straßen des südamerikanischen Landes.
Sternen-Gaucho als deutsches Arbeitstier
Ein paar Modelle haben den Weg zurück nach Europa gefunden. Unser Exemplar musste wahre Frondienste leisten, wurde bei der Stuttgarter Straßenbahnen AG zum Schmieren von Weichen eingesetzt und schleppte bei Wind und Wetter ein riesiges Fass durch die Schwabenmetropole. Jetzt, im Alter von mehr als 45 Jahren darf der Pickup entspannt durch die Gegend gleiten.
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